Russland - eine andere Welt



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Im Oktober 2001 nahm ich an einer vom hiesigen Stadtpfarrer Alfred Behr organisierten und geführten Reise nach St. Petersburg teil.

 

Er war ein Veteran des 2. Weltkrieges und 1944 nach seiner Gefangennahme in verschiedenen Lagern bei Leningrad (so hieß St. Petersburg damals noch) als Kriegsgefangener zur Arbeit eingesetzt.

Obwohl Leningrad von den Deutschen Truppen fast ein ganzes Jahr lang belagert und ausgehungert wurde, obwohl es dadurch in der eingeschlossenen Stadt zu fürchterlichen Zuständen kam (u.a. zu Kannibalismus), wurden er und seine Mitgefangenen von der Bevölkerung gut behandelt.

 

Auf dieser Reise nun wollte er den noch lebenden Menschen von damals etwas zurück geben, er wollte "Danke" sagen.

Seit Jahren bereits versorgte er sie über die von ihm gegründete Hilfsorganisation "Spasibo Matuschka" (Danke, Mütterchen) mit Kleidung, Medikamenten und finanzieller Hilfe.

Unsere Reisegruppe bestand aus Leuten, welche entweder aktiv bei "Spasibo Matuschka" mithalfen oder die Organisation mit Spenden unterstützten.

In Russland waren vor dieser Reise die wenigsten Teilnehmer gewesen, und so wurde es für uns zu einer Reise in eine andere Welt.

 

Bauernkate am Ladogasee
Bauernkate am Ladogasee

Untergebracht in einem der größten Hotels in St. Petersburg, unternahmen wir verschiedene "Ausflüge" ins Umland dieser sehr schönen Stadt.

Wir besuchten u.a. das noch unvollständig restaurierte Bernsteinzimmer,

den Prominentenfriedhof (u.a. Mussorgski's Grab), wir besichtigten das Haus des russischen Impressionisten Repin nahe der finnischen Grenze, und verbrachten natürlich etliche Stunden in der "Eremitage".

Das ganz normale Touristenprogramm eben.

 

Doch dann wurde es "ernst" - wir waren zu einem Kaffeenachmittag in einem Altersheim eingeladen.

Mir war irgendwie mulmig zumute, ich hatte "Angst" davor, Menschen gegenüber zu treten, welche die Zeiten der Belagerung während des Krieges mit viel Glück überlebt hatten.

Sie mussten doch immer noch Hass gegenüber den Deutschen empfinden,

so wie wir Schuld empfanden für Dinge, die wir nicht zu verantworten hatten.

 

Was soll ich sagen: selten habe ich eine Erfahrung gemacht, die mir deutlicher vor Augen geführt hätte, was Vergebung, Liebe, Mitgefühl wirklich bedeuten!

Diese alten, gebeugten Menschen - gebeugt durch die Last des Erlebten - empfingen uns wie Freunde. Wir "unterhielten" uns mit ihnen unter Zuhilfenahme von Händen und Füßen, einige von ihnen kannten noch den Text des einen oder anderen deutschen Volkslieds, das sie während der Besatzung lernen mussten. - Und sie trugen das Lied vor.

Es entstand eine Wärme und Vertrautheit zwischen diesen alten Menschen und uns, die mich zu Tränen rührte!


Eingang des Rathauses
Eingang des Rathauses

Ein weiterer "Ausflug" führte uns an den Ladogasee, rund 3 Fahrtstunden nordöstlich der Stadt gelegen.

Wir kamen durch das typisch russische Landschaftsbild: endlose Birkenwälder rechts und links der Strasse. Ab und zu ein hölzernes Bauernhaus, ansonsten NICHTS ausser den herrlichen Herbstfarben des Birkenlaubs.

Schließlich kamen wir an unserem Ziel an: einem kleinen Dorf am Ufer des Ladogasees, in welchem die Menschen wie seit eh und je ihren Lebensunterhalt mit Fischfang bestritten.

Vor solcher Armut würden wir hier in Deutschland die Augen zu verschließen suchen!

Wir wurden ins "Rathaus" eingeladen, eines der wenigen Steinhäuser des Ortes. Im Erdgeschoss erinnerte eine Ausstellung an die Opfer der versuchten Flucht vor der Wehrmacht über den gefrorenen See 1944;

im einzigen Obergeschoss war für uns eine "Tafel" gedeckt, an welcher wir mit dem bewirtet wurden, was die Leute hatten: Fischsuppe, Pirogen, Wodka.

Es wurde lustig, und am Ende - in Stimmung gebracht durch den Wodka - wurden Lieder angestimmt.

Mit einem Mal verstand ich durch diese melancholischen Lieder die "russische Seele" - auch wenn ich kein Wort von dem verstand, was sie zum Inhalt hatten. Wir "revanchierten" uns mit deutschen Volksliedern und dem Absingen des Badnerlieds, und es entstand eine Stimmung, die von tiefem gegenseitigem Respekt, von Sympathie und  tiefer Verbundenheit geprägt war.

Unter Umarmungen wurden wir am Ende des Tages verabschiedet.

 


Ausserdem auf unserem Programm stand ein Besuch des größten deutschen Soldatenfriedhofs auf russischem Boden.

Sologubowka.

Mehr als 100.000 deutsche Gefallene des 2. Welkriegs sind hier zu ihrer letzten Ruhe gebettet.

Ein riesiges Areal, ein ebenes Feld mit vielen Stelen, auf welchen die Namen der Toten eingraviert sind - und einigen wenigen Markierungen (vielleicht 20 oder 30) an Stellen, wo identifizierte Soldaten liegen. Den Eingang zu diesem Friedhof bildete die zerschossene Ruine einer Kirche, die inzwischen mit Geldern von "Spasibo Matuschka" wieder aufgebaut wurde.

Noch nie war mir die Sinnlosigkeit von Kriegen bewusster als in dem Moment, als ich allein durch dieses riesige Feld ging!

Und dabei war es vollkommen unerheblich, wer hier begraben lag: ob Deutsche, Russen, Österreicher, Ukrainer...

100.000 Männer, von denen nur die allerwenigsten das 40. Lebensjahr erreicht haben dürften - geopfert aus Hass auf Andersdenkende, aus Intoleranz!  


 

Was habe ich von dieser Reise mitgenommen?

 

Den Glauben an die Menschheit.

Wenn wir uns nicht von Herrschenden, Religionen, Ideologien missbrauchen, verblenden lassen, dann können wir alle miteinander auskommen!

Es liegt einzig an jedem Einzelnen von uns, Hass, Misstrauen und Neid durch Liebe, Vertrauen und Mitgefühl zu besiegen!

 

Ach ja, was ich ausserdem mit nach Hause gebracht habe:

Matruschkas
Matruschkas