Menschenleeres Land, Einöde.
So kann man große Teile Kastilien/Leóns bezeichnen. Die Meseta, eine wald- und fast schattenlose Hochebene, lässt den Menschen spüren, wie allein er auf dieser Welt tatsächlich ist. Und sie lässt den Begriff "Zeit" zu einem Nichts schrumpfen - oder bläst ihn zu etwas Riesengroßem auf.
Oder beides.
Zwischen Población de Campos und Calzadilla de la Cueza führte der Weg rund 35 Kilometer durch diese beeindruckende Landschaft.
Ein Teilstück (18 Kilometer) verlief auf der alten Römerstrasse immer schnurgerade geradeaus durch hügelige, abgeerntete, endlose Felder.
Den Blick durch nichts abgelenkt, richtete sich dieser mehr und mehr nach innen. Ein gnadenloser, heisser Gegenwind machte das Gehen zur Qual.
Die sengende Sonne tat ihr Übriges.
Ich war allein. Allein mit mir selbst. Ein erhebendes Gefühl; ein Gefühl, das Angst machte. Einsamkeit.
Ich spürte, dass Zeit zeitlos ist. Ich fühlte, dass ich ein Bestandteil dieser Zeit bin, dass ich winzig bin. Dass ich Zeit bin.
Tränen stiegen mir in die Augen, ich war abwechselnd himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt.
Ich ging durch die Hölle und fand den Himmel dabei.
Ich sang, ich schrie, ich lachte, ich weinte.
Mir kam ein Lied der Steve Miller Band in den Kopf, der von da an meine Hymne sein sollte: Fly like an Eagle...
Mir wurde bewusst, dass ich frei wie ein Adler bin.
Mir wurde klar, dass ich Ich bin.
Im krassen Gegensatz zu der Einsamkeit der Meseta standen die pulsierenden Städte, die den Weg nach Santiago säumten.
Als erste größere Stadt erreichte ich Pamplona.
Von dicken Mauern umschlossen, auf einem Hügel liegend, bietet Pamplona eine Vorstellung davon, wie das Leben in einer mittelalterlichen Stadt gewesen sein muss. Schmale, von eng beieinander stehenden Häusern begrenzte Gassen, die sich um die Plaza Mayor mit ihrem pompösen Brunnen scharen.
Es war schön in Pamplona, doch ich war froh, als ich es wieder verlassen konnte.
In Logroño traf ich ein, als sie dort das Fest zu Ehren des Stadtheiligen feierten. Die Strassen waren fast unpassierbar vor lauter Menschen, es ging zu wie in einem Ameisenhaufen.
Auf der Plaza Mayor vor der Kathedrale trank ich eine cerveca und ließ mich vom Hin und Her der Menschenmassen umspülen. Ganz in Weiss gekleidete, mit einem roten Halstuch geschmückte Musikgruppen bahnten sich ihren Weg durch das nur widerwillig zurückweichende Publikum.
Es war schön in Logroño, doch ich verließ es schon bald wieder.
Dann kam ich nach Burgos.
Der Weg in die Stadt führte zuerst durch die kilometerlange Baustelle des neuen Flughafens. Dann ging es etliche Kilometer durch Industriegebiete am Rande der Stadt.
Die Luft wurde zunehmend dicker, die frische Landluft gewohnten Lungen wollten den Gestank der Abgase nur äusserst ungern hereinlassen.
Dann die Kathedrale: eine barocke Fassade, riesig hohe Türme - pompös! Und alles in blendendem Weiss, verstärkt noch durch den tiefblauen, wolkenlosen Himmel.
In diese Kirche, dieses Kunstwerk musste ich hinein!
Doch was ich im Inneren dieses Gebirges aus Kalksandstein sah, ließ mich auf dem Absatz kehrt machen: Gold und Edelsteine (geraubt in Südamerika), edelste Schnitzereien, all der Prunk erschlugen mich fast.
Ich spürte den Atem der Inquisition in meinem Nacken, mir wurde eiskalt.
Es war nicht schön in Burgos, ich floh aus der Stadt.
Nach der Durchquerung der Meseta (siehe oben) wartete León auf mich.
León, der ehemalige Sitz der Könige von León, bildete den Endpunkt meines Camino, denn mir waren leider nur 2 1/2 Wochen Zeit vergönnt.
Und so waren meine Gefühle auch sehr zwiespältig, als ich mich den Toren der Stadt näherte. Einerseits hatte ich mein Ziel erreicht und war stolz darauf, andererseits wollte ich nicht wahrhaben, dass mein Camino tatsächlich schon zu Ende sein sollte.
Und tatsächlich war es so, alsob mich irgendetwas davon abhalten wollte, die Stadt zu betreten. Ich verlief mich in den Aussenbezirken zweimal gnadenlos, was mir auf den gesamten knapp 480 km bis hierhin noch nie passiert war!
Im Gewirr der Zufahrtsstrassen und der neu gebauten Stadtautobahn fand ich keine Hinweise mehr - und auch die bisher immer hilfsbereiten Spanier am Weg schickten mich entweder in die Irre, oder sie konnten gar keine Auskunft geben.
Es war wie verhext!
Schließlich fand ich meinen Weg dann doch wieder, und machte mich auf die Suche nach der Pilgerherberge. Ich fand sie auch - allerdings war sie wegen Flohbefalls geschlossen! Also musste ich wieder durch die halbe Stadt zurück und mir in der Jugendherberge ein Bett suchen.
León's Altstadt ist geprägt von schönen und sehr gepflegten Fachwerkbauten, die von der Kathedrale überragt werden.
Und diese Kathedrale gehört zu den schönsten und beeindruckendsten Kirchen, die ich je gesehen habe!
Aufgrund ihrer großen Fensterflächen ist sie lichtdurchflutet und entwickelt dabei eine unvergleichliche Atmosphäre.
Es war wunderschön in León und ich verließ diese Stadt nur äusserst widerwillig.
Ich war also nach 480 Kilometern Fußmarsch an meinem Ziel angelangt.
Und ich wusste genau, dass es nicht mein letzter Camino gewesen sein würde. Ich versprach mir, Santiago beim nächsten Mal zu erreichen:
2008 via Via de la Plata!