Schon die Anreise gestaltete sich bemerkenswert:
Ich entfernte mich zuerst ein großes Stück vom Ziel, ehe ich mich auf es zubewegte!
Von Karlsruhe flog ich über London nach Biarritz. Dann weiter mit dem Taxi nach Bayonne und von dort mit dem Zug nach SAINT JEAN PIED DE PORT am nördlichen, dem französisch-baskischen Fuß der Pyrenäen.
In Saint Jean erhielt ich den ersten Stempel in meinen Pilgerpass, das Credencial, und den eindringlichen Hinweis, bei schlechtem Wetter nicht die Route über den Pass zu wählen, sondern entlang der Landstrasse zu gehen.
Nach einer unruhigen Nacht (aufgeregt wie ich war, konnte ich nicht richtig schlafen) brach ich am nächsten Morgen in aller Frühe auf.
Es sollte mein erster ganzer Tag auf dem Camino werden, und ich fühlte mich prächtig. Ich war bereit, sämtliche Pässe der Pyrenäen zu bezwingen.
Meine Wirtin Mme. Madizabal hatte mir zwar versichert, dass es im Laufe des Tages zu regnen beginnen würde; der Blick zum Himmel jedoch strafte sie Lügen, denn ausser ein paar kleinen Wolken zeigte sich nichts als strahlendes Blau.
"Die Strecke entlang der Landstrasse ist was für Weicheier und Flachlandtiroler - ich nehme den Weg für die im Mittelgebirge beheimateten, furchtlosen und durchtrainierten, erfahrenen Wanderer und gehe über den Pass!"
Also los!
Dass 28 km im Gebirge eine einigermaßen lange Etappe darstellen, war mir klar. Doch ausgerüstet mit einem 14 kg schweren und mit allerhand nützlichen Dingen prall gefüllten Rucksack, sollte das Tagesziel problemlos und in einigen Stunden zu erreichen sein.
Von den besagte 28 Kilometern führten 21 bergauf.
Und wenn ich bergauf sage, dann meine ich BERGAUF!
Ausgestattet mit zwei Teleskop-Wanderstöcken stieg ich (anfangs schwungvoll, dann mit der Zeit auch etwas gebremster) Meter um Meter bergan voran. Bald war ich allein unterwegs; nach rund zwei Stunden traf ich auf einen französischen Treibjäger, was mich dieses Knallen von Schüssen verstehen ließ, das ich seit geraumer Zeit gehört hatte.
Er zeigte mir seine Flinte, worauf ich auf meine Jacke deutete und sagte: "Je suis rouge, compri?!"
Er grinste und dachte sich wohl: "Jaja, rote Jacke und grün hinter den Wanderohren." Dann zeigte er zum Himmel und sagte etwas wie "pluie", mit seinem Blick auf mich gerichtet schüttelte er den Kopf.
Daraufhin grinste ich (etwas schief) und dachte: "Scheiße ja, rote Jacke und dicke schwarze Wolken darüber!"
Sie sollten alle Recht behalten: Der Stempler, die Wirtin, der Jäger, der Reiseführer... "Von der Überquerung der Pyrenäen via Ibañetapass wird bei schlechtem Wetter dringend abgeraten!"
Von den zahlreichen wunderschönen Ausblicken wurde mir nicht einer zuteil, sie waren samt und sonders unter dicken Wolken verborgen.
Nebel erschwerte mir langsam die Orientierung, und der immer dichter werdende Regen (anfangs vertikal, dann immer mehr auch horizontal) durchnässte nicht nur die rote Jacke, sondern auch alle darunter getragenen Kleidungsschichten.
Ich hörte nichts ausser dem pfeifenden eisigen Wind, ich sah fast nichts vor lauter Nebel und beschlagenen Brillengläsern.
Aber ich spürte!
Ich spürte jedes verdammte Gramm in meinem Rucksack, spürte wie mir das Wasser vom Hut in den Nacken lief, von dort am Rückgrat entlang in die Hose und weiter in die Schuhe, um von dort bei jedem Schritt wieder nach draussen gepumpt zu werden. Ich spürte mehr Muskeln, als ich je zu haben für möglich gehalten hätte, und vor allem spürte ich ganz deutlich:
"Na, Du Schlaumeier! War ja ne ausgesprochen fabelhafte Idee, die Route über den Pass zu nehmen. Depp!"
Irgendwann, nach vielen Stunden, Tränen, Flüchen und Schmerzen ging es plötzlich nicht mehr weiter bergauf - der Weg neigte sich.
Ohne es zu merken, musste ich die spanische Grenze überschritten haben! Dabei hatte ich mir diesen Moment als etwas Erhabenes vorgestellt; als prima Grund, mir selbst auf die Schultern zu klopfen und per Selbstauslöser ein Erinnerungsfoto zu machen.
So aber ließ ich das mit dem Sich-auf-die-Schulter-klopfen lieber sein (sie taten mir von den Rucksackgurten ohnehin ekelhaft weh).
Und auch auf das Erinnerungsfoto verzichtete ich (ich hätte die Camera ebenso gut in einen Bach werfen können), und machte mich statt dessen an den Abstieg.
Bergauf war ja schon nicht schön, aber die nun folgenden 7 km bergab gaben mir vollends den Rest!
War es beim Aufstieg die Waden- und Oberschenkelmuskulatur, so waren es nun die Schienbeine und die Knie- und Hüftgelenke, die mir deutlich zu verstehen gaben, dass sie mit mir unzufrieden waren.
Und der spanische Wind und der Regen unterschieden sich auch nicht im Geringsten von ihren französischen Vettern auf der anderen Seite der Berge!
Doch nach gefühlten 48 Stunden (tatsächlich waren es "nur" 11 Stunden) war das Etappenziel erreicht: RONCESVALLES
Nach einem sehr späten Abendessen, für das ich rund eine Stunde anstehen musste, begab ich mich in die Pilgerherberge.
Dabei handelte es sich um einen mittelalterlichen, einer riesigen Scheune gleichen Backsteinbau mit einem großen Schlafsaal, in dem etwa 60 Stockbetten untergebracht waren.
Von diesen 120 Betten waren wohl 100 belegt, und es herrschte ein buntes Treiben in den engen Gängen.
Ich schmierte mir eine halbe Tube Voltarengel auf die schmerzenden Gelenke und die müden Knochen, hängte meine nassen Klamotten über das Bettgestänge und wollte gerade damit beginnen, die Eindrücke dieses ersten Tages in mein Moleskine zu schreiben, als plötzlich das Licht ausging. Es war 22:00 Uhr - Zapfenstreich!
Wider Erwarten trat der tiefe Schlaf nach der körperlichen Erschöpfung nicht ein. Zu viel ging mir durch den Kopf, all das Erlebte wollte zuerst verarbeitet sein.
Und dann war da noch diese Duftmischung aus Voltarengel, nassen Kleidern, 100 Paar Wanderschuhen, sonstigen Ausdünstungen...
Auch der Geräuschpegel war alles andere als dem Einschlafen oder Durchschlafen förderlich: ständig ging jemand auf die Toiletten, wurde etwas aus Plastiktüten geholt (oder zurückgesteckt), war die Resultate von Verdauungsprozessen zu hören...
Ich muss sagen: dieser Tag war einer der anstrengendsten meines bisherigen Lebens!
Aber ich war stolz wie Harry!