Unterwegs



So schlimm?! - Nein, reine Vorsorge.
So schlimm?! - Nein, reine Vorsorge.

Antonius, wenn man dann schließlich auf dem Camino unterwegs ist - wie stellen sich die einzelnen Tagesetappen dann dar? Wie sieht so ein Tagesablauf aus?

 

- Im Prinzip ist ein Tag wie der andere. Man steht morgens früh auf, so gegen 6 Uhr. Nach der Morgentoilette macht man sich auch schon auf den Weg. Man frühstückt unterwegs in einer Bar, trinkt im Laufe des Tages irgendwo am Weg ein Bier oder ein Glas Wein und erreicht im Laufe des Nachmittags das Etappenziel, die Herberge. Dort wäscht man die Wäsche, duscht, schreibt vielleicht in sein Tagebuch und geht dann zu Abend essen. Anschließend sitzt man vielleicht noch etwas zusammen und geht dann recht früh zu Bett.

 

Und so geht das Tag für Tag? Wochenlang?

 

- Im Großen und Ganzen, ja!

 

Wird das nicht mit der Zeit langweilig?

 

- Überhaupt nicht! Wenn auch der Tagesablauf, der äußere Rahmen immer mehr oder weniger gleich ist, so ist doch jeder Tag neu. Man durchwandert ja immer neue Gegenden, sieht immer wieder Neues. Jeder Moment, jeder Schritt, den man im Laufe eines Tages macht ist einzigartig. Ausserdem läuft man ja nicht wochenlang in immer derselben Umgebung herum.

Die Landschaften entlang des Weges sind ungeheuer vielfältig.

Ein anderer Aspekt ist, dass dieser immer gleiche Tagesablauf, diese Routine Halt gibt; und Freiraum schafft, sich seinen Gedanken hinzugeben, all die verschiedenen Eindrücke, Gespräche entspannter zu genießen.

 

Kommt man denn auch durch größere Städte?

 

- Pamplona, Burgos, León, Astorga - um nur die größten zu nennen. Dazwischen kommt man immer wieder durch kleinere Städte und Ortschaften. Wenn man sich unterwegs also mit dem einen oder anderen versorgen will, so kann man das ohne Probleme tun.

Zudem bilden die Städte einen Kontrastpunkt zu den zugegebenermaßen manchmal eintönigen Strecken durch endlos scheinende Felder und Wiesen.

 

Eine willkommene Abwechslung...

 

- ja, auch das. Mir ging es allerdings irgendwann so, dass ich dem Trubel einer Stadt so schnell wie möglich wieder entfliehen wollte! Ich genoss die einsamen Strecken so sehr, dass mir die Enge, der Lärm und das Wirrwarr in den Städten einfach unerträglich war. Ausserdem ist das Atmen in einer Stadt eine Tortur für die an klare Landluft gewohnten Lungen. Das habe ich besonders in Burgos so empfunden.

 

Durchstreift man ausserhalb der Städte nur ödes Land oder gibt es unterwegs auch Sehenswürdigkeiten?

 

- Na, für manch einen ist ödes Land schon eine Sehenswürdigkeit! Je nachdem wo man herkommt...

Aber es gibt unterwegs -auch ausserhalb der Städte- durchaus Sehenswürdigkeiten, die zu besuchen sich wirklich lohnt!

 

Kannst Du Beispiele nennen?

 

- Die "Ermita Eunate" zum Beispiel. Das ist eine uralte Kirche, die den Templern zugeschrieben wird. Ein ganz besonderer Ort!

Oder die Ruinen von "San Antón", eine ehemalige Stiftskirche, durch welche heute eine Strasse führt.

Riesige Kirchen, oftmals nur noch Ruinen aus romanischer und auch gotischer Zeit, welche mitten im Nichts stehen, lediglich umgeben von ein paar wenigen Häusern. Man fragt sich dann unwillkürlich, wie die da hin gekommen sein mögen.

 

Klingt nach einer Reise durch die Kirchengeschichte...

 

- Es ist eine Reise durch die Geschichte schlechthin! Man wandert auf Resten von Römerstrassen, kommt an Stauseen vorbei, die bereits von den Römern angelegt wurden und heute noch für die Wasserversorgung der Städte sorgen, und so weiter.

Man taucht ein in die Geschichte, erlebt sie hautnah. Ich finde das faszinierend!

Es ist wie eine Zeitreise.

 

Das muss man aber auch mögen...

 

- Wer den Camino Francés geht, folgt einem uralten Weg, den bereits unzählige Menschen gegangen sind. Man kann der Geschichte gar nicht ausweichen. Die Erde, die Luft, alles atmet dort Geschichte aus - und Geschichten. Stelle Dir doch einmal die vielen Lebensgeschichten all dieser Menschen vor, die vor Dir schon hier gepilgert sind! All die Schicksale!

Man spürt einfach, dass man nicht allein ist mit seinen Problemen. Man ist mittendrin in einem schier unerschöpflichen Pool von Lösungen. Jeder, der sich öffnet, findet irgendwo auf diesem Weg seine ganz persönliche Antwort auf seine ganz persönliche Frage.

Und das Schönste dabei ist: Man selbst trägt zu diesem ungeheuren Schatz etwas bei, was irgendjemand einmal brauchen kann. Man lernt so Selbstlosigkeit kennen, ohne sich vor ihren Konsequenzen zu fürchten.

 

Romantisierst Du jetzt nicht ein bisschen sehr? Es gibt doch unter den Pilgern bestimmt nicht nur Selbstlosigkeit und Nächstenliebe?

 

- Ich habe es oft so empfunden. Klar, wo Menschen sind, da menschelt es auch!

 

Ich habe von wahren Wettrennen um die Schlafplätze gehört, Diebstahl ist in den einschlägigen Foren ein ständig wiederkehrendes Thema...

 

- Das mit den Wettrennen ist leider nicht zu leugnen. In manchen Herbergen gibt es wirklich nicht genügend Betten - besonders in den Sommermonaten, wenn viele Spanier und auch Franzosen unterwegs sind. Gerade auf den letzten 100 Kilometern vor Santiago kommt das immer wieder vor.

Und was Diebstahl angeht: Ja, auch so etwas kommt vor. Aber das sind unrühmliche Ausnahmen.

Wie heisst es so schön? Gelegenheit macht Diebe!

Man muss eben darauf achten, dass man dem potentiellen Dieb keine Gelegenheit bietet.

 

Streiten sich Pilger?

 

- Klar, warum auch nicht? Das gehört zur großen Lektion dazu, die man auf so einem Weg zu lernen hat.

 

Und was ist Deiner Meinung nach die "Große Lektion"?

 

- Dass wir lernen, loszulassen!

 

Wenn mir einer etwas stehlen will, dann soll ich es ihm geben?!?

 

- Quatsch!

Wir klammern uns oft an Dinge, die uns vermeintlich unentbehrlich sind, von denen wir glauben, dass wir ohne sie kein glückliches, zufriedenes Leben führen können.

Unseren Lebenspartner etwa - wir sperren uns gegenseitig mit unserer "Liebe" oftmals ein, ohne es zu merken. Aus Harmoniebedürfnis, aus Angst vor Streit, aus Furcht nicht mehr geliebt oder sogar verlassen zu werden verbiegen wir uns selbst - und zwingen den Anderen dazu, es auch zu tun.

Wenn wir diese Ängste loslassen, Vertrauen entwickeln, dann sind wir auf dem besten Weg zu diesem zufriedenen und glücklichen Leben, das wir uns so sehr wünschen.