Antonius, Du hast mir erzählt, was Deine Motivation war, auf eine Pilgerreise zu gehen.
Wann war Dir denn klar, dass Du Dich auf den Weg machen würdest?
- Der Gedanke kam mir über Jahre hinweg immer wieder einmal in den Sinn. Aber genauso oft habe ich ihn auch wieder verworfen. Oder ihn auch wieder vergessen.
Richtig klar, dass ich gehen musste war es mir rund ein Jahr vor meinem tatsächlichen Aufbruch.
Das hat dann aber doch noch eine ganze Zeit gedauert...
- Ja, aber schließlich war der Ruf zu gehen so laut, dass ich ihn nicht mehr überhören konnte.
Zwölf Monate erscheinen lange; wenn man aber bedenkt, was alles an Vorbereitungen zu treffen war, was geplant werden musste, dann kann ein Jahr schon ganz schön kurz sein.
Ich wollte zuerst einmal so viele Informationen wie möglich sammeln und durcharbeiten.
Dann musste ich mich nach der geeigneten Ausrüstung umsehen: Schuhe, Rucksack, Wanderstöcke und so weiter. Das braucht alles Zeit, will man nicht Hals über Kopf abhauen.
Wie hat denn Dein Umfeld darauf reagiert, dass Du eine Pilgerreise machen wirst?
- Von Bewunderung über Gleichgültigkeit, Kopfschütteln und Ablehnung bis hin zu Widerstand war alles vertreten. Hätte ich auch nur auf einen Bruchteil der vielen verschiedenen Meinungen gehört, ich wäre heute noch nicht unterwegs!
Widerstand?
- Ja, meine Frau wollte nicht, dass ich gehe.
Und Du bist trotzdem aufgebrochen...
- ...es musste sein!
...das klingt ziemlich egoistisch!
- Das ist nur vordergründig so. Ich kann doch nur dann dem Anderen Gutes tun, wenn es mir selbst gut geht. Wenn ich unzufrieden bin, dann ist keinem geholfen.
Hatten -Deiner Erfahrung nach- andere Pilger ähnliche Probleme?
- Das weiss ich nicht, ich gehe aber davon aus.
Was hast Du denn für Leute getroffen unterwegs?
- Ich habe Menschen aus fast der ganzen Welt getroffen. Überwiegend Europäer, ja. Aber ebenso Kanadier, Amerikaner, Australier, Argentinier, Brasilianer. Sogar einen Japaner. Lediglich Afrikaner und Russen habe ich keine gesehen.
Und so unterschiedlich ihre Herkunftsländer waren, so unterschiedlich waren auch ihre Berufe, ihr Alter, ihre Motivationen. Du triffst auf die unterschiedlichsten Charaktere.
Ungemein interessant!
Das kann ich mir vorstellen! Wie verständigt man sich denn mit einem Japaner oder mit einem Polen?
- Na, mit Händen und Füßen, wenn man keine gemeinsame Fremdsprache findet.
Und mit den Spaniern vor Ort?
- Entlang des Camino Francés, also von den Pyrenäen bis nach Santiago de Compostela kann man sich mit Englisch oder auch Französisch durchschlagen. Ein paar spanische Redewendungen, wie: "Guten Tag, bitte, danke, wo ist" und so weiter sind natürlich hilfreich. Ausserdem öffnet Dir jedes spanische Wort, das Du verwenden kannst, die Herzen der Spanier ein bisschen mehr.
Sie sind trotz der inzwischen in Massen auftretenden Pilgerscharen überaus gastfreundlich und hilfsbereit.
Und abseits dieser Pilgerroute? Wie kommuniziert man dort mit den Einheimischen?
- Auf dem flachen Land ist es unumgänglich, zumindest Grundkenntnisse der spanischen Sprache zu haben. Die Leute sprechen zwar häufig schier unverständliche Dialekte, verstehen Dich aber wenigstens, wenn Du sie etwas fragst.
In den größeren Städten trifft man problemlos auf Spanier, die auch eine Fremdsprache sprechen.
Aber auch dort sollte man sich darauf nicht verlassen; also: Besser vorher einen VHS-Kurs in Spanisch besuchen!
Und wie gesagt: Wenn Worte nicht mehr weiterhelfen, dann kann man immer noch mit Händen und Füßen kommunizieren. Das geht immer!
Kommunikation scheint also wirklich kein Problem zu sein. Wie ist es aber, wenn ich einen schlechten Tag habe und gar nicht kommunizieren will?
- Wenn Du einen schlechten Tag hast oder einfach nur Deine Ruhe haben möchtest, dann sagst Du das. Von Ausnahmen abgesehen -aber die gibt es ja überall- wird man Deinen Wunsch respektieren und Dich in Ruhe lassen. Denselben Respekt kann der Andere natürlich für sich genauso in Anspruch nehmen! Das heisst: Wenn Du mit einem Menschen Kontakt aufnehmen willst, der dazu aber keine Lust hat, dann lässt Du ihn auch in Frieden.
Ausserdem ist der Camino so lang, dass man sich problemlos aus dem Wege gehen kann...
...bis man sich am Ende einer Etappe in der Herberge wieder über den Weg läuft!
Ich stelle es mir etwas schwierig vor, jeden Abend die Annäherungsversuche anderer Pilger abzuwehren!
- Was meinst Du mit "Annäherungsversuchen"?
Nun: Wenn ich davon ausgehe, dass Männlein und Weiblein bunt gemischt und losgelöst von allem tage- oder gar wochenlang gemeinsam unterwegs sind... Da kommt es doch bestimmt zu mehr als nur Konversation über die bevorstehende Tagesetappe!
Glaubt man Hape Kerkelings Buch, dann muss es in den Herbergen manchmal ganz schön heiss hergehen!
- Ja, ich kenne die betreffenden Passagen in seinem Buch. Aber liebeshungrige Brasilianerinnen sind mir keine über den Weg gelaufen. Klar, in manchen Herbergen wird abends noch ganz schön einer draufgemacht, warum auch nicht?! Daraus aber die Regel abzuleiten: Auf dem Jakobsweg geht's zu wie in Sodom und Gomorrha - das ist völlig daneben gegriffen!
Dass es zu der einen oder anderen Liebelei kommt, kannst Du aber nicht in Abrede stellen...
- Das will ich auch gar nicht. Es gibt ganz sicher Leute, die sich mit solchen Phantasien oder sogar mit dem Vorsatz auf den Weg begeben, dort eine Affäre zu haben. Und sie dann tatsächlich auch haben. Aber ich möchte behaupten, dass das eine absolute Minderheit ist!
Natürlich ergibt sich im Laufe der Tage eine gewisse Nähe zu dem einen oder anderen Mitpilger; dass diese Nähe aber dann zu einer Affäre führen muss, das ist ein Märchen.
Fassen wir es so zusammen: Wer unbedingt eine Affäre haben will, wird auch eine Gelegenheit dazu bekommen. Aber es gehören auch hier, wie immer, zwei dazu. Wer nicht will, muss nicht!
Ist Dir selbst etwas in dieser Richtung passiert?
- Ja, auch mir ist so etwas passiert! Ein Argentinier fand offensichtlich Gefallen an mir, er akzeptierte aber mein Nein sofort.
Darüber hinaus hat niemand versucht, sich mir mehr zu nähern, als es mir recht gewesen wäre.
Aber dann hast Du Dich doch verliebt.
- Ich habe eine Seelenverwandte getroffen. Wir haben über Dinge gesprochen, die wir sonst Keinem erzählt hätten. Dass ich mich verliebt hatte, wurde mir erst nach meiner Rückkehr nach Deutschland klar.
Öffnet man sich fremden Menschen gegenüber leichter als Bekannten?
- Ich denke ja! Man fühlt sich freier, hat keine Angst davor, das Offengelegte könnte gegen einen verwendet werden. Man muss keine Rücksichten nehmen - weder sich selbst noch dem Anderen gegenüber. Man kann vollkommen ehrlich und offen sein.
Sollte man das nicht immer sein? Ich meine, nicht nur auf einem Pilgerweg?
- Da hast Du ganz sicher Recht! Diese Erkenntnis habe ich auch von meinem Camino mitgenommen!
Nun ist es aber so, dass man im Alltag auf vielerlei Dinge Rücksicht zu nehmen gewohnt ist.
Man will dem Anderen ja mit seiner Offenheit nicht weh tun. Wie oft sagt man "Ja", obwohl man eigentlich "Nein" sagen will. Man nimmt sich selbst zurück, um den Frieden zu wahren.
Dass man damit keinem einen Gefallen tut, am allerwenigsten sich selbst, das spürt man zwar, will es aber nicht so sehen.
Diese falsche Rücksichtnahme fallen zu lassen und statt dessen sich selbst treu zu sein, das ist eine der großen Aufgaben, die sich uns stellen.